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DekonstruktionSystemtheorie / Radikaler Konstruktivismus



Siehe auch: Interpellation (D)

Verstehen (ST/RK)

Sowohl Luhmann als auch radikalkonstruktivistische Theoretiker markieren Verstehen als Beobachterkategorie. Die soziologische Systemtheorie kennzeichnet Verstehen neben Mitteilung und Information als eine der drei selektiven Operationen, aus denen jede Kommunikation als Letztelement sozialer Systeme besteht. Verstehen elaboriert die Differenz von Mitteilung und Information, Verstehensprozesse finden statt, wenn die Tatsache, dass ein Sachverhalt kommuniziert wird, für dessen Bedeutung ausschlaggebend ist. Verstehen beruht konstitutiv auf der "Erfolgserwartung" (Luhmann), welche eine Sprecherin bzw. Ego mit ihrer/seiner Mitteilung verknüpft und die sich als Erwartung einer Annahmeselektion formiert.

Schmidt charakterisiert Verstehen in diesem Sinn als "Prozess sozialer Bewertung und Kontrolle der Anschlussfähigkeit von Kommunikationen". Seine Bestimmung des Verstehensbegriffs lehnt sich auch an Rusch an, der diesen im Anschluss an Maturanas Charakterisierung von Kommunikation als wechselseitigem Orientierungsverhalten als das "Entsprechen einer Orientierungserwartung" expliziert.

Ruschs Attributionstheorie des Verstehens charakterisiert Verstehen als soziales Handlungsschema, das soziale Interaktionen konventionalisiert und dadurch ermöglicht. Trotz dieser Parallele zu Luhmann kritisiert Rusch dessen Verstehensbegriff scharf und weist auf die Schwierigkeiten, die aus Luhmanns Theorem der Unwahrscheinlichkeit des Verstehens resultieren. Dieses suggeriere noch immer, dass Verstehen in der richtigen Rekonstruktion des Meinens bzw. eines Orientierungswertes besteht.

Die genuin soziale Kennzeichnung des Verstehens führt zur Kritik hermeneutischer Prämissen wie der von der notwendigen Übereinstimmung von Gemeintem und Gesagtem im Verstehensakt. Die Doppelperspektivierung des Kommunikationsprozesses schließt die Gleichsetzung von Mitteilungsintention und sozialer Bedeutung aus. Texte werden nicht aufgrund objektiver Eigenschaften richtig verstanden, sondern soziale AkteurInnen schreiben sich Verstehen aufgrund der Einhaltung von Interpretationsregeln bzw. Konventionen zu. Diese sind Ausdruck der medienspezifischen Typisierung von Zeichenprozessen.

Die konstruktivistische Literatur- und Medienwissenschaft unterscheidet zwischen der kognitiven Kommunikatkonstruktionen als den subjektiven Bedeutungen, die eine Rezipientin einem Medienangebot zuschreibt, und der kommunikativen Kommunikatverarbeitung, die soziale Prozesse der Interpretationskontrolle umfasst. Nur letztere kommt für die Zuschreibung von Verstehen in Frage.

--> Die Attributionstheorie des Verstehens verdeutlicht, dass die Frage nach der richtigen Interpretation von Medienangeboten mit sozialer Regulation gekoppelt ist, da es immer darum geht, wer wem richtiges Verstehen attestieren kann. Diese Problematik gilt für Prozesse der Textinterpretation auf der Objektebene ebenso wie im Rahmen kulturwissenschaftlicher Ideologiekritik.

Die feministischen Kulturwissenschaften stehen bislang eher in der Tradition philologischer Texthermeneutik und untersuchen nur selten die kognitive Eigenkonstruktivität von RezipientInnen und die soziale Attribution von Verstehen in Interpretationsprozessen. Ansätze wie die Leseforschung von Crawfort und Chaffin zeigen stattdessen die methodischen Folgen eines Wechsels zur Beobachtung von Bedeutungskonstruktionen auf.

© Sibylle Moser & proddiff (Stand: 10.9.2003)

Siehe auch: Kommunikation (ST/RK); Macht (ST/RK)

Literaturhinweise
•  Crawford, Mary / Chaffin, Roger (1986): "The Reader´s Construction of Meaning: Cognitive Research on Gender and Comprehension".
•  Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie [kommentiert (ST)].
•  Rusch, Gebhard (1999): "Konstruktivistische Theorien des Verstehens".
•  Schmidt, Siegfried J. (1992): "Über die Rolle von Selbstorganisation beim Sprachverstehen".
•  Schmidt, Siegfried J. (1994): Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur.

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