Schrift (D)Zentral für das Denken der Dekonstruktion ist Derridas Reformulierung des klassischen Verständnisses der Schrift als einer sekundären Repräsentation (als Zeichen eines Zeichens) im Gegensatz zur gesprochenen Sprache, die allein Präsenz, Wahrheit und Authentizität zu verheißen scheint. Ausgehend vom sekundären, abgeleiteten Status der Schrift gegenüber dem sich selbst gegenwärtigen Sprechen, den Derrida als einen Grundzug der abendländischen Metaphysik versteht, versucht er zu zeigen, dass die Kerneigenschaften des klassischen Schriftbegriffs (Beständigkeit, Wiederholbarkeit, Bruch mit dem Kontext, Verräumlichung) sowohl zur Struktur der geschriebenen als auch gesprochenen Zeichen gehören und folglich jedes Zeichen als Schrift, als immer schon aufgeschobene und verschobene Gegenwart im Sinne der différance konstituieren. Derrida gelangt auf diese Weise zu einem verallgemeinerten Schriftbegriff ("Ur-Schrift"), in dem die Rede, das Bewusstsein, und die Wahrheit als vermeintlich sinnstiftende Instanzen nur abgeleitete Effekte sind. Dennoch hält er aus 'strategischen' Gründen an dem alten Namen Schrift fest - ein Vorgehen, das er auch als Paläonymie bezeichnet. Es ist nicht möglich, die metaphysischen Termini einfach beiseite zu legen; vielmehr geht es darum, sie auf andere Art wieder einzuschreiben, die Ordnung und Hierarchie, an die sie geknüpft sind, umzukehren und zu verschieben.
--> Im französischen Feminismus zeigt sich die 'Gendermarkierung' der Schrift in den Versuchen, Schrift mit den Konzepten des weiblichen Schreibens (Cixous) oder einer anderen Sprache der Frau (Irigaray) zu assoziieren. Weil das Schreiben von Frauen aufgrund ihres Ausschlusses aus der Kultur weniger subjektzentriert sei als das männlicher Autoren, wären diese näher an der 'Schrift' selbst, so die feministische Kritik (hier Lindhoff), die auch in Derridas Sporen eine deutliche Nähe der Schrift zu Konzepten von Weiblichkeit und Unabschließbarkeit erkennen will (ähnlich dem Autobiographie-Verständnis von Paul de Man). Frau, Schrift und Autobiographie wären, dieser Argumentation folgend, Supplement, Ergänzung und stünden für einen Mangel. All diese Annahmen einer vergeschlechtlichten Konzeption von Schrift scheinen geprägt von einem Gestus der (Re-) Essentialisierung.
© Anna Babka, Gerald Posselt & proddiff (Stand: 29.12.03)
Siehe auch: Différance (D); Zeichen (D); Dekonstruktion (D); Autor (D); Autobiografie (D); Text (D); Rhetorik (D)
Literaturhinweise Cixous, Hélène (1997): "Sorties: Out and Out: Attacks/Ways Out/Forays [kommentiert (D)]". Derrida, Jacques (1986): "Sporen. Die Stile Nietzsches [kommentiert (D)]". Derrida, Jacques (1988): "Signatur Ereignis Kontext [kommentiert (D)]".
Bibliografie zum Glossareintrag
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| Schrift (ST/RK)Sowohl Luhmanns Soziologie als auch die konstruktivistische Medienkulturtheorie theoretisieren Schrift in Relation zum Begriff der Kommunikation. Im Zentrum steht die Auswirkung schriftlicher Aufzeichnungssysteme auf die Beziehung zwischen KommunikatorInnen und damit auf die soziale Organisation. Als Verbreitungsmedium verwirklicht Schrift die selbstreferenzielle Dynamik des Mediensystems. Wie alle Medien entsteht sie in Differenz zu anderen Medien und erfüllt im Laufe der Medienevolution wechselnde Funktionen, die von religiösen Riten bis hin zur wissenschaftlichen Wahrheitsfindung reichen.
Luhmann weist darauf hin, dass Schrift eine Form der Kommunikation bzw. eine "Teilung des Kommunikationsraumes" ist, die ihre spezifische Semantik als Form der Unterscheidung von schriftlicher und mündlicher Kommunikation entwickelt. Schrift transformiert Sprache vom Medium der Akustik in die Optik und entbindet die Interpretation kommunikativer Mitteilungen von der Anwesenheit der Kommunizierenden. Sie reflektiert die Differenz von Mitteilung und Information und führt zur einer Reinterpretation von Raum und Zeit und damit des sozialen Gedächtnisses einer Gesellschaft.
Aufgrund der Abwesenheit von KommunikatorInnen ist schriftliche Kommunikation als erste "Telekommunikation" kontingent und schaltet die durch sie erzeugten kom-munikativen Unsicherheiten durch den Rekurs auf hermeneutische Regeln der Sinnauslegung aus. So reflektieren phonetische Alphabetschriften das Potenzial der Sprache zur Binarisierung und gehen mit der Ontologisierung und der Erfindung kommunikationsexterner Referenz einher. Dadurch gewinnen soziale Systeme kommunikative Differenzierungen, die sich in der Erfindung des Buchdrucks fortsetzen und die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften ermöglichen.
--> Die feministische Beobachtung der Geschlechterdifferenz seit der Aufklärung markiert durch extensive Textproduktionen die Kontingenz der Selbstdarstellung der modernen Gesellschaft. Weder Luhmann noch Schmidt haben auf die Auswirkungen der Schriftkultur auf die Geschlechterdifferenz rekurriert. Im Rahmen der soziologischen Verknüpfung von gesellschaftlicher Differenzierung und medialer Evolution wird jedoch deutlich, dass der Zugang zu spezifischen Medien von entscheidender Wichtigkeit für die Exklusion oder Inklusion der Mitglieder einer Gesellschaft ist. Der unterschiedliche Zugang der Geschlechter zum Medium Schrift indiziert ihren Status und ihre Wirkungsradien innerhalb einer Gesellschaft. So wird bis heute in sogenannten 'Entwicklungsländern' Frauen der Zugang zur Schrift verwehrt.
© Sibylle Moser & proddiff (Stand: 10.9.2003)
Siehe auch: Form/Medium (ST); Mediensystem (RK)
Literaturhinweise Goody, Jack / Watt, Ian / Gough, Kathleen (1968): Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Luhmann, Niklas (1994): "Die Form der Schrift". Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände [kommentiert (ST)]. Rusch, Gebhard (1992): "Auffassen, Begreifen und Verstehen. Neue Überlegungen zu einer konstruktivistischen Theorie des Verstehens".
Bibliografie zum Glossareintrag
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