Binarität (D)In der Sprachwissenschaft verweist der Begriff der Binarität auf die theoretisch vorausgesetzte Möglichkeit, komplexe sprachliche Systeme auf eine begrenzte Anzahl binärer Oppositionen (Minimalpaare) zurückzuführen. Ausgehend von der strukturalistischen Begründung der Sprachwissenschaft durch Saussure über Jakobson zu Lévi-Strauss, Lacan, Barthes u.a. wird das strukturalistische Analyseverfahren auf andere soziale Phänomene und Felder (Anthropologie, Literatur, Psychoanalyse) übertragen. Doch obgleich der strukturalistische Binarismus von seiner Idee her einen antiessentialistischen Ansatz vertritt, insofern er scheinbare Identitäten in eine begrenzte Zahl binärer Oppositionen zerlegt, neigt er zur Universalisierung und Ontologisierung der binären Struktur. An diesem Punkt setzt die poststrukturalistische Kritik an. Indem sie zeigt, dass das Denken in binären Oppositionen stets den einen Term des Paares gegenüber dem anderen privilegiert, so dass der andere immer als das Negative des ersten erscheint (Mann/Frau, Geist/Körper, Sprache/Schrift, Kultur/Natur), entlarvt sie die binäre Logik als Basis der abendländischen Metaphysik. Folglich zielt die Dekonstruktion der binär hierarchisierten Oppositionen nicht auf eine einfache Umkehrung ab, sondern auf eine Umkehrung und Verschiebung der Gegensätze, die das Denken in festen Identitäten und Oppositionen grundsätzlich untergräbt.
--> Das Problem der Binarität - von Mann/Frau, männlich/weiblich - spielt per definitionem eine entscheidende Rolle in allen feministischen Diskursen. Genderspezifische Ansätze intendieren dabei vor allem, die binär organisierten und asymmetrischen Machtstrukturen, die die Subjektivierungsprozesse und das Denken der sexuellen Differenz dominieren, aufzudecken und zu dekonstruieren. Besonders der französische Feminismus hat sich mit dem Ziel, die Multiplizität weiblicher Differenz herauszuarbeiten, in verschiedenen Strategien der Dekonstruktion geschlechterspezifischer Binarismen versucht (vgl. Cixous' écriture féminine, Irigarays parler femme). Strittig ist jedoch, ob diese Spielart der feministischen Theorie letztlich nicht doch einem Denken der Differenz verpflichtet bleibt.
In unterschiedlicher Radikalität positioniert sich die nordamerikanische Dekonstruktion (Johnson, Spivak, Felman, Butler u.a.). Tendenziell wird die Vervielfältigung der Geschlechterdifferenz als différance oder als Performanz jenseits binärer Oppositionspaare angestrebt. So argumentiert Butler in ihrer Lektüre Monique Wittigs, dass es "weder um die Figur des Androgynen, noch um eine mutmaßliche 'dritte Geschlechtsidentität', noch um die Transzendierung der Binarität" geht: "Statt dessen handelt es sich um eine interne Subversion, die die Binarität sowohl voraussetzt als auch bis zu dem Punkt vervielfältigt, dass sie letztlich sinnlos wird." (Butler 1990, 188)
© Anna Babka (Stand: 6.10.03)
Siehe auch: Sprache (D); Struktur (D); Dekonstruktion (D); Différance (D); Aporie (D); Hybridität (D)
Literaturhinweise Butler, Judith (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity [kommentiert (D)]. Cixous, Hélène (1997): "Sorties: Out and Out: Attacks/Ways Out/Forays [kommentiert (D)]". Derrida, Jacques (1976): "Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen [kommentiert (D)]". Irigaray, Luce (1977): Das Geschlecht das nicht eins ist.
Bibliografie zum Glossareintrag
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| Leitdifferenz (ST)Im Rahmen der Theorie funktionaler Differenzierung sind Leitdifferenzen evolutionär bewährte Differenzen, welche die Selektion von Sinn durch binäre Codes in Funktionssystemen wie der Wissenschaft (wahr/falsch), Wirtschaft (zahlen/nicht-zahlen) oder Kunst (interessant/uninteressant) usw. regeln. Leitdifferenzen konstituieren nach Luhmann die Grenzen zwischen Funktionssystem und Umwelt und ermöglichen die eindeutige Selektion von Kommunikationen. Als Strategien der Entparadoxierung stellen sie eine Komplexitätsreduktion dar, die zur Effizienzsteigerung führt.
Auf sich selbst angewandt führt Codierung zu Paradoxien. Die Wahrheit des Codes wahr/falsch kann selbst nicht wahr oder falsch sein. Codes können selbst keine Kriterien für ihre Richtigkeit liefern, sie werden durch Programme realisiert, die Kriterien für die Richtigkeit ihrer Anwendung festlegen. Luhmanns klassifikatorische Bestimmung von sozialen Systemgrenzen wird von Rusch und Hejl mit dem Argument in Frage gestellt, dass die jeweiligen Codes dezisionistisch festgelegt werden und den temporären Charakter von Grenzbildungsprozessen vernachlässigen.
--> Luhmann interpretiert die Geschlechterdifferenz im Rahmen der Theorie funktionaler Differenzierung als Code der Familie, eine Interpretation, die von Jokisch mit dem Argument in Frage gestellt wird, dass ebendiese funktionale Festschreibung zu Ende des 19. Jahrhunderts dysfunktional wird. Seiner Ansicht nach regelt der Code Mann/Frau heute die sexuelle Kommunikation. Diese Bestimmung demonstriert jedoch ebenso wie Luhmanns Sichtweise eine empirisch unfundierte Reduktion der Komplexität der Geschlechterdifferenz. Sie basiert auf einer Beobachtung, welche die vielschichtigen Unterscheidungen der aktuellen Geschlechterforschung ignoriert.
Das moderne Geschlechterverhältnis elaboriert die Paradoxie, dass sich in der Moderne parallel zur Semantik der Gleichheit die Semantik der natürlichen Ungleichheit der Geschlechter formiert. Der Code der Geschlechter wird im Rahmen feministischer Bewegungen beobachtet und damit zu einer reflexiven Leitdifferenz. Beobachtungen aus der feministischen Gesellschaftstheorie verdeutlichen zudem, dass die unterschiedlichen Funktionsbereiche wie die Arbeit in Wirtschaft und Familie unterschiedlich bewertet werden.
© Sibylle Moser & proddiff (Stand: 8.3.2004)
Siehe auch: Differenzierung, funktionale (ST); Inklusion/Exklusion (ST)
Literaturhinweise Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie [kommentiert (ST)]. Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? [kommentiert (ST)]. Luhmann, Niklas (1988): "Frauen, Männer und George Spencer Brown [kommentiert (ST)]". Pasero, Ursula (1994): "Geschlechterforschung revisited: konstruktivistische und systemtheoretische Perspektiven [kommentiert (ST)]". Pasero, Ursula (1995): "Dethematisierung von Geschlecht [kommentiert (ST)]".
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