Handlungsfähigkeit (D)Der Terminus Handlungsfähigkeit (auch Handlungsvermögen, Handlungsmacht) ist der Versuch, den englischen Ausdruck agency zu übersetzen. Er verweist auf die Fähigkeit, das Vermögen oder die Macht eines Individuums oder einer Gruppe, wirksam in die gesellschaftlichen Verhältnisse einzugreifen und diese zu lenken. In diesem Sinne ist er ein zentraler Begriff für jede politisch motivierte Theorie.
Während der liberale Humanismus von einem einheitlichen und selbstbestimmten Subjekt ausgeht, das in der Lage ist, seine Lebensumstände selbst zu formen, sieht der Marxismus die Individuen durch die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse vollständig determiniert, hält aber an der Vorstellung eines revolutionären Klassensubjekts fest, das in der Lage ist, im Rahmen seiner geschichtlichen Verhältnisse zu agieren. Dagegen kritisieren post-marxistische (Althusser), psychoanalytische (Freud, Lacan) und post-strukturalistische Theorien (Foucault, Lyotard, Deleuze) die Vorstellung eines rational-autonomen Subjekts und beschreiben dieses stattdessen als Effekt ideologischer, sprachlicher oder diskursiver Prozesse. Damit stellt sich die Frage nach der Handlungsfähigkeit der sozialen Individuen, d.h. nach ihrer Fähigkeit, die soziale Ordnung zu verändern und jener Macht Widerstand zu leisten, durch die sie selbst konstituiert werden.
--> Die Frage nach der (politischen) Handlungsfähigkeit ist für den Feminismus von entscheidender Bedeutung. Während traditionelle Positionen darauf beharren, dass die Identität und die Einheit des feministischen Subjekts die unabdingbaren Voraussetzungen für jedes emanzipatorisch-politische Projekt sind, argumentieren poststrukturalistische TheoretikerInnen, wie z.B. Butler, dass Handlungsfähigkeit nicht außerhalb eines Macht-Wissen-Regimes gedacht werden kann. Der konstruktive Charakter der Identität steht nicht im Gegensatz zur Handlungsfähigkeit. Vielmehr besteht dieses gerade in der Teilhabe, Aneignung und Destabilisierung identitätskonstitutiver Verfahren und Mechanismen durch subversive Strategien sowie Praktiken der Resignifikation und Reartikulation. Als eine reiterative Praxis ist Handlungsfähigkeit nach Butler der Macht immanent und ist ihr nicht als eine äußerliche Relation entgegengesetzt (Butler).
© Gerald Posselt & proddiff (Stand 24.11.03)
Siehe auch: Identität (D); Konstruktion (D); Subjekt (D); Performativität (D); Macht (D); Iterabilität (D)
Literaturhinweise Althusser, Louis (1977): "Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung) [kommentiert (D)]". Benhabib, Seyla / Butler, Judith / Cornell, Drucilla / Fraser, Nancy (1993): Der Streit um die Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart [kommentiert (D)]. Butler, Judith (1990): Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity [kommentiert (D)]. Butler, Judith (1993): "Kontingente Grundlagen: Der Feminismus und die Frage der Postmoderne [kommentiert (D)]". Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum Wissen [kommentiert (D)]. Salih, Sara (2002): Judith Butler [kommentiert (D)].
Bibliografie zum Glossareintrag
Externe Links Judith Butler - Queertheory.com
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| Handlung (ST/RK)Akteurszentrierte Handlungstheorien behandeln Handlungen als intentionales Verhalten, dessen Einheit im Weltwissen bzw. den propositionalen Einstellungen (Meinen, Glauben, Wollen etc.) eines rationalen Akteurs besteht. Entwicklungen innerhalb der analytischen Handlungsphilosophie weisen die Bestimmung dieser Eigenschaften bereits als Interpretationskonstrukte bzw. als Beobachtung aus: eine als Handlung wahrgenommene Körperbewegung wird unter den Aspekten "der Intentionalität, Willkürlichkeit, Planung, Sinnhaftigkeit, Ziel- (und) Normen-Orientiertheit" (Groeben) beschrieben. Maturana und Varela setzen Handlungen mit Verhaltensweisen gleich, die dem Beobachter als sinnvoll bzw. funktional erscheinen. Die soziologische Systemtheorie elaboriert mit dem Begriff der Handlung wesentlich die Einheit der Differenz von Bewusstsein und Kommunikation. Handlungen sind Kommunikationen, die auf Bewusstsein zugeschrieben werden. Systemtheorie fokussiert deshalb Prozesse der Handlungskonstitution und betont die Doppelperspektivität bzw. Sozialität der Handlung. Alter und Ego schreiben einander im Rahmen spezifischer Semantiken bestimmte Operationen als Handlungen zu. Ein System kann Selektionen allgemein entweder auf sich selbst (Selbstreferenz) oder auf die Umwelt zurechnen (Fremdreferenz). Während Handlungen nach Luhmann die Selbstreferenz eines Systems verwirklichen, werden fremdreferenzielle Operationen von diesem als Ereignisse erlebt.
Da Kommunikationen in der Systemtheorie als flüchtige Ereignisse gelten, können sie nur als Handlungen beobachtet werden. Handlungen sind Kommunikationen, die in der Sach-, Zeit- und Sozialdimension selektiert und zeitlich fixiert werden. Systeme schreiben Kommunikationen spezifischen sozialen AkteurInnen bzw. sozialen Adressen (Fuchs) zu. Die Zuschreibung von Verantwortung resultiert aus der Interpretation von Kommunikationen mittels spezifischer Handlungssemantiken wie sie etwa im Rahmen des Rechtsdiskurses verwirklicht werden. Schmidt weist im Rahmen der konstruktivistischen Medienkulturtheorie darauf hin, dass die Beobachtung von Kommunikation ohne Selbstbeschreibung von AkteurInnen, wie etwa der Angabe von kommunikativen Motiven, nicht zu plausibilisieren bzw. zu empirisieren ist.
--> Aufgrund ihrer politischen Ausrichtung ist Handlungsfähigkeit eine zentrale Kategorie in der feministischen Theorie. Die Beobachtung sozialer Adressen als weibliche Handlungssubjekte formiert sich in Abgrenzung von der Semantik der Aufklärung, die Frauen als Gattungswesen definierte und ihnen Rechts- und Vernunftfähigkeit, die zentralen Attribute einer Handlungszuschreibung, absprach.
Die soziologische Systemtheorie verdeutlicht, dass die Beobachtung von Handlungsfähigkeit das Resultat kollektiver Rhetoriken ist; so erscheint das Subjekt des Feminismus auch bei Butler als Effekt spezifischer Attributionen, die AkteurInnen aufgrund feministischer Semantiken zugeschrieben werden. Die zentrale Kritik Butlers ist, dass die feministische Selbstbeschreibung bewusstseinsphilosophische Relikte, wie etwa den cartesianischen Subjektbegriff, unkritisch übernimmt. Sie trifft sich damit mit Luhmanns Infragestellung der Reduktion der Handlung auf ein Bewusstseinsphänomen.
Die aktuellen Beobachtungen feministischer Handlungsfähigkeit kämpfen mit der Differenz zwischen den individuellen Selbstattributionen von Akteurinnen, die in eine Vielzahl von funktionalen Kontexten eingebunden sind, und der Zuschreibung kollektiver Handlungsfähigkeiten durch feministische Gruppen und Institutionen. Sie arbeiten sich deshalb am Paradox der Ungleichheit von Gleichheit ab.
© Sibylle Moser & proddiff (Stand: 10.9.2003)
Siehe auch: Bewusstsein (ST/RK); Subjekt (ST/RK); Kommunikation (ST/RK); Kognition (ST/RK)
Literaturhinweise Benhabib, Seyla / Butler, Judith / Cornell, Drucilla / Fraser, Nancy (1993): Der Streit um die Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart [kommentiert (D)]. Fuchs, Peter (1997): "Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie". Luhmann, Niklas (1978): "Erleben und Handeln". Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie [kommentiert (ST)]. Moser, Sibylle (2001): Komplexe Konstruktionen. Systemtheorie, Konstruktivismus und empirische Literaturwissenschaft. Schneider, Wolfgang Ludwig (1994): Die Beobachtung von Kommunikation. Zur kommunikativen Konstruktion sozialen Handelns.
Bibliografie zum Glossareintrag
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